Europawahl, die „Altparteien“ und die Generation YouTube

Die „Altparteien“sind bei der Europawahl abgestraft worden. Das hat vielleicht auch mit den „Altmedien“ zu tun. Zerbricht jetzt ein politisch-mediales System?

Dass Europa niemanden interessiert, kann man nach dieser Wahl zum Europaparlament nicht mehr sagen. Mit 61,5% Wahlbeteiligung in Deutschland ist ein Spitzenwert erreicht worden, der für eine hohe Legitimation der europäischen Institutionen und vor allem des europäischen Parlaments steht. Anders als bei früheren Wahlen steht eine hohe Wahlbeteiligung aber nicht für eine „Tendenz zur Mitte“, sondern es sind gerade die vormals „kleineren“ Parteien gewählt worden, während in Deutschland gerade die Parteien der Großen Koalition mächtig abgestraft wurden. Sie hätten nicht die richtigen Themen besetzt, sie seien nicht an die jüngeren Wähler herangekommen, sie seien farblos gewesen, sind in der Wahlnacht geäußerte Kritiken an CDU und SPD.

Themensetzung? Wähler erreichen? Das sind vor allem mediale und journalistische Funktionen. Wie ist denn der Zusammenhang zwischen dem Wahlergebnis und dem Journalismussystem in Deutschland? Was auffällt, ist, dass die „Altparteien“ ihre Kampagnen nach wie vor stark auf den „alten“ Medien aufbauen. Lokale Aktionen in Fußgängerzonen und Altenheimen werden vor allem für die lokale Printpresse inszeniert, anderswo finden sie medial gar nicht statt. Besonderer Fokus wird aber auf das Fernsehen und die Telepräsenz der eigenen Kandidat/innen gelegt. So kann man es schließlich auch in den entsprechenden Handbüchern und wissenschaftlichen Analysen lesen. Es wird von der Legitimität einer via Fernsehen gestützten „teledemokratischen“ Herrschaft gesprochen, die ein plebiszitär-charismatisches Element betone (U. Sarcinelli). Entscheidend bei einem solchen Anlass ist, „Medienereignisse“ zu generieren, die eine (Fernseh-)Berichterstattung initialisieren.

Mit solchen Maßnahmen mag man noch Teile der Wählerschaft erreichen. Besondere Aufmerksamkeit erzielt man nach dieser Medienlogik mit „negativem Campaigning“, wie wir es gerade wieder in Österreich erleben konnten, wo mit einem Enthüllungsvideo nicht nur der FPÖ-Chef Strache desavouiert wurde, sondern das politische System inkl. ihrer Medien gleich mit.

Rezo und die Europawahl

Das YouTube-Video „Zerstörung der CDU“ des Influencers Rezo zeigt, dass wir das von Blumler und Kavanagh Ende der 1990er-Jahre apostrophierte „dritte Zeitalter der politischen Kommunikation“ verlassen haben und auf ihr „viertes Zeitalter“ zustoßen. Die individualisierten Wählerschichten der digitalen Moderne haben nicht nur ihre Parteienloyalität abgelegt, sie wollen auch in individualisierten Medien „auf Abruf“ adressiert werden. Gleichzeitig werden neue Erzählformen und Propagandaformen in der politischen Kommunikation etabliert, wozu insbesondere der „Rant“, also die Internet-Hassrede, zählt: Auch das ist „negatives Campaigning“ und auch das ist natürlich interessegesteuert, aber deswegen ist es nicht illegitim. Es handelt sich vielmehr um politische Kommunikation im Stil des Gangsta-Rap. Der Begriff des „Influencers“ erfährt dabei eine Bedeutungserweiterung: Hier wird nicht mehr nur mit medialem Einfluss das Kaufverhalten der meist jugendlichen User in Bezug auf Kosmetika und Computerspiele manipuliert, sondern gezielt auf die politische Willensbildung Einfluss genommen. Den klassischen, den „Altmedien“ bleibt in diesem Spiel nur noch die Rolle des Verstärkers: Die Klickzahlen des Rezo-Videos sind ja erst in dem Augenblick exponentiell gestiegen, als die ersten journalistischen Beiträge in Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen darüber zu lesen waren. Die hypnotische Reaktion der CDU-Zentrale auf das Video von Rezo zeigt, wie sehr die „Altparteien“ immer noch an den „Altmedien“ hängen und wie wenig sie von den neuen Kommunikationsmöglichkeiten und ihren neuen Gebräuchen verstanden haben.

Die digitale Kommunikation über die neuen Kanäle auf YouTube & Co. ersetzen also nicht die „Altmedien“, sondern verhalten sich komplementär. Sie schneiden sich aber mittlerweile ein immer größeres Stück vom Aufmerksamkeitskuchen ab und betreiben ein Agenda-Setting, das man den etablierten Medien kaum noch zutrauen würde. Dass Rezo ein enormes mediales und rhetorisches Talent ist, kommt hier noch dazu, wäre aber außerhalb von Wahlkampfzeiten und den dazugehörigen Nervositäten wohl kaum aufgefallen. Den Parteien wäre nur zu raten, solche Talente in die eigenen Reihen zu integrieren — man muss allerdings befürchten, dass die neuen „Influencer“ wie Rezo darauf „keinen Bock haben“ …

Ich glaube übrigens nicht, dass Wahlen im Internet gewonnen werden. Aber vielleicht werden sie ja da verloren.

Links

DLF MediasRes: Millionenfach geklickte CDU-Kritik

Schweizer Rundfunk SRF: „Natürlich muss die CDU reagieren“

 

Über Medienhektor 99 Artikel
Hektor Haarkötter, Prof. Dr., lehrt Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt polit. Kommunikation an der Hochschule Bonn Rhein-Sieg.

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