Nachrichtenwerttheorie: Bitte nicht nachmachen!

Die Nachrichtentheorie wird radikal falsch verstanden: In Journalistenausbildung und Wissenschaft gilt sie als Leitfaden zur Auswahl von Information. Doch ihr Erfinder, Johan Galtung, wollte das Gegenteil: „Eine Warnung, wie man es nicht machen sollte“.

Der norwegische Wissenschaftler Johan Galtung ist gar kein Medien- und Kommunikationswissenschaftler, sondern Friedensforscher. Als solcher fragte er sich schon in den 1960er-Jahren, warum die dringendste Frage der Welt, nämlich die nach Krieg und Frieden im Zeitalter der Atomrüstung, es so schwer hat, in die Nachrichten zu kommen. Zusammen mit seiner Kollegin Mari Holmboe Ruge hat er darum Zeitungen analysiert, um herauszufinden, wie sie „ticken“ und nach welchen Kriterien sie Ereignisse und Informationen auswählen und in ihre Publikationen aufnehmen. Heraus kam ein Set von sogenannten Nachrichtenfaktoren wie Aktualität, Überraschung, Konflikt, Elite-Personen etcetera. Insgesamt ermittelten Galtung und Ruge 12 Faktoren, die sich auch addieren konnten und zusammen den „Nachrichtenwert“ ausdrückten.

Damit verbunden war allerdings schon 1965, als ihr Aufsatz The Structure of Foreign News im Journal of Peace Research erstmals erschien, eine Warnung. Denn wenn alle Redaktionen sich an die gleichen Faktoren halten, dann kann nichts anderes dabei herauskommen, als ein einziger großer Nachrichtenbrei, ein Medien-Mainstream, in dem alle das Gleiche berichten. Von Pluralismus keine Spur. Entsprechend folgerten die Forscher schon in den 1960er-Jahren:

Try to counteract all these factors“.

Nicht nur Neuigkeiten, auch „Altigkeiten“

Die Schweizer „Medienwoche“ hat nun in Genf den Wissenschaftler Johan Galtung erneut interviewt. Immer noch sieht er sich und seine Theorie völlig falsch verstanden:

Das war nicht eine Anweisung, wie man Journalismus machen sollte, sondern eine Warnung, wie man ihn nicht machen sollte!

Durch die falsche Anwendung der Nachrichtenwert-Theorie sieht Galtung ein Phänomen enstanden, das er den „Flughafen-Journalismus“ nennt:

„Alle berichten darüber, wie wichtige Menschen in ein Flugzeug ein- und wieder aussteigen, ohne Kontext. Das kann ich nicht verstehen, damit degradieren sich Medienschaffende ja selbst, wie sie da vor dem Flugzeug warten, nur um ein paar Schritte einer bestimmten Person zu sehen“.

Die Nachrichten dürften nicht nur „News“, sondern müssten manchmal auch „Olds“ sein, nicht nur die „Neuigkeiten“, sondern sozusagen auch die „Altigkeiten“ verbreiten:

Newspapers sollten gleichzeitig auch oldpapers sein, also nicht nur die Neuigkeiten des Tages, sondern auch die ‹Altigkeiten› des Tages beinhalten. Neuigkeiten sprechen von gestern, ‹Altigkeiten› sprechen von heute.

Galtung gibt mit seiner Revisitation der von ihm mitentwickelten Nachrichtenwerttheorie nicht nur Anstöße für den Journalismus, sondern auch für die Medien- und Kommunikationswissenschaft, die allzu häufig ein eher affirmatives Verhältnis zum Nachrichtenwesen hat.

Linktipp:

Galtung-Interview der Medienwoche

Über Medienhektor 99 Artikel
Hektor Haarkötter, Prof. Dr., lehrt Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt polit. Kommunikation an der Hochschule Bonn Rhein-Sieg.

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