Online-Texte ohne Recherche

Recherche kommt häufig zu kurz, die Zeit dafür fehlt, und überhaupt muss es ja im Journalismus immer schnell gehen. Aber im Online-Journalismus hat sich ein neuer Typ journalistischer Arbeit etabliert: Der journalistische Text (nahezu) ohne jede Recherche.

Gerade hat die Webseite des Frauenmagazins Brigitte bewiesen, wie das geht: Artikelseiten zu füllen, ohne wirklich recherchiert zu haben. Anlass war der Streit um die Änderung des Paragraphen 219a StGB, in dem es um die angebliche Werbung für Schwangerschaftsabbrüche geht. Eine betroffene Frau hat ihre Erlebnisse bei der Suche nach kompetenter Information über einen Schwangerschaftsabbruch im Kurznachrichtendienst Twitter dargestellt. 

Davon wiederum bekam die Brigitte-Redaktion Wind. Sie machte daraus eine Story unter der Überschrift: “Bewegende Schilderung: So traumatisch war meine Abtreibung”. Schon die Ich-Form der Überschrift legt die Deutung nahe, die twitternde Betroffene selbst sei die Autorin des Brigitte-Artikels oder die Redaktion habe sich jedenfalls engstens mit ihr auseinandergesetzt. Doch nichts davon war der Fall. Die Betroffene ist fassungslos und schreibt, wiederum auf Twitter:

„Ist das euer Ernst, @brigitteonline???? ‚So traumatisch war meine Abtreibung‘??? Ohne auch nur ein Wort mit mir gesprochen zu haben, daraus einen ekelhaften Clickbait zu machen und auch noch zu suggerieren, ICH hätte den Text geschrieben? WTF???“

Zu den Formen des Onlinejournalismus ohne Recherchen gehört zweifelsohne auch der Instagram- und Twitter-Journalismus. Damit meine ich nicht journalistische Arbeiten, die über die genannten Kanäle verteilt werden, sondern vielmehr Onlineartikel, die nichts anderes tun, als mir zu erzählen, was andere Leute auf Twitter oder Instagram zu sagen haben. Eine absurde Form der „Berichterstattung“ ist das schon deswegen, weil ich selbst ja einfach auf Instagram oder Twitter nachschauen könnte und dafür gar keine fremde journalistische Leistung benötigte. Vor allem nicht, wenn sie so hirnverbrannt ist wie das hier von stern.de:

„Der kleine schwarze Kater von Elliot Green entzückt auf Instagram Tausende von Followern mit seinen Bildern. Sein besonderes Merkmal: seine blinden Augen. Elliot Green aus Tennessee adoptierte den Kater und machte ihn mit seinen inzwischen knapp 12.000 Followern zu einem richtigen Petfluencer auf Instagram. Merlin Griffith, wie der Kater auf dem sozialen Netzwerk heißt, kam, als er einige Wochen alt war, zu seinem Besitzer. Er ist eine seltene Mischung aus Munchkin und Perser und nur so groß wie eine Wasserflasche. Das berichtete Elliot Green auf Twitter und postete einige Bilder des süßen Katers. Die Bilder des hübschen Katers lassen unsere Herzen höher schlagen …“

Solche Artikel lassen sich in fast beliebiger Stückzahl vom Schreibtisch aus zusammenstellen. Man muss nicht telefonieren, keine Interviews führen, nicht nachfragen, keine Quellen checken, keine Behauptungen verifizieren, nichts von alledem: Es ist Journalismus, der keine Arbeit macht und nicht weh tut und der eigentlich überhaupt nichts leistet. Das klingt dann ungefähr so wie hier beim Berliner Kurier:

„Vanessa Blumhagen plumpst beim Frühstücksfernsehen fast die Brust raus. Am Montag sprach sie – natürlich – über die vergangene Oscar-Nacht. In einem Instagram-Post posiert sie wie die großen Hollywood-Stars für die Kamera. Dort ist das Ausmaß des Ausschnitts noch nicht erkennbar. Dafür umso mehr in einer Instagram-Story. Blumhagen beugt sich provokativ nach vorne, dabei droht vor allem die linke Brust immer wieder aus dem Oberteil zu plumpsen“.

Das ist vielleicht noch nicht lang genug für einen vollständigen Artikel? Immerhin raten die SEO-Experten und Google-Optimierer ja dazu, Texte mit mindestens 300 Wörtern zu schreiben. Kein Problem: Unter die nichtssagenden Instagram-Postings haben doch bestimmt ein paar ebenso nichtssagende User irgendwelche absolut nichtssagenden Kommentare geschrieben. Mit denen kann man jeden solchen Artikel fast beliebig in die Länge ziehen. Und tatsächlich:

„Die Follower sind geteilter Meinung über das Outfit. ‚Oscar hin und her, aber so ein Ausschnitt muss im Frühstücksfernsehen nicht sein. Bin nicht prüde‘ und ‚Warum sich so anbieten im TV? Schön ist leider anders …‘, lauten zwei der Kommentare“.

Noch eine andere Form des Onlinejournalismus ohne Recherche ist das ermüdende Nacherzählen von Fernsehsendungen, insbesondere den ARD-Talkshows. Keine Maischberger- oder Plasberg-Sendung im ersten Fernsehprogramm, ohne dass nicht die großen und kleinen Internetportale die Sendungen wie weiland in der siebten Klasse nacherzählen würden. Der Aufwand besteht für den Redakteur aus nicht mehr als Fernsehgucken – nachgefragt, hinterfragt oder überhaupt gefragt wird bei dieser „journalistischen“ Tätigkeit nicht mehr. Und warum der interessierte Medienkonsument, wenn er sich für ARD-Talkshows interessiert, diese nicht einfach selbst guckt und sie stattdessen auf Spiegel Online oder sonstwo nachlesen soll, hat sich mir bis heute nicht erschlossen. Und wenn auch in diesem Fall der Beitrag noch nicht lang genug ist, kann man ja schnell noch gucken, was die User auf Twitter oder anderen Netzwerken zu der in Rede stehenden Sendung gepostet haben. Den Vogel hat kürzlich watson.de abgeschossen, das eine komplette Webseite nur mit Twitter-Tweets zu einer „Hart-aber-fair“-Sendung gefüllt hat:
Bei einer Betriebsversammlung einer größeren Redaktion in einem durchaus angesehenen Verlagshaus soll kürzlich der Chefredakteur verkündet haben, Redakteure sollten nur noch in äußersten Notfällen für eigene Recherchen die Redaktion verlassen und ansonsten sich im „allgemeinen Blätterrauschen“ bedienen, sprich: bei den anderen abschreiben. Wohin das führt, kann man bei Internetseiten wie Promiflash, news.de oder tag24.de sehen: Zweit- und Drittverwertungen ohne jeden journalistischen Mehrwert, die nur Klicks, aber keine Information erzeugen.

Ach, wie wäre es denn stattdessen mit exklusiven Geschichten, mit investigativen Storys, mit recherchierten Berichten und kommentierenden Einordnungen? Kurz: Wie wäre es zur Abwechslung mit Journalismus?

Links

Stern: Kater Merlin verzaubert seine Instagram-Follower

Watson: Hart aber fair

Meedia: Clickbaiting mit dem Thema Abtreibung

 

 

 

Über Medienhektor 99 Artikel
Hektor Haarkötter, Prof. Dr., lehrt Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt polit. Kommunikation an der Hochschule Bonn Rhein-Sieg.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.