Ein Jubiläum ist zu feiern, aber so recht mag keine Feierstimmung aufkommen. Der Online-Journalismus feiert 30. Geburtstag. Dass keine Sektstimmung aufkommt, mag an der Ernüchterung liegen, die sowohl die Medien-Praktiker:innen als auch die Journalismus-Forscher:innen angesichts der katastrophischen Situation befallen hat, in der Journalismus und Publizistik in Deutschland (und auch anderswo) stecken. Eine breitere Öffentlichkeit indes hat von dem Jubiläum schon gar nichts mehr mitbekommen: Auch ein Indiz für die gesellschaftliche Stellung, die der (Online-)Journalismus heute einnimmt.
Das erste genuin journalistische Angebot, das mit einer eigenen Website im WWW startete, soll die Lokalzeitung Palo Alto Weekly gewesen sein. Am 19. Januar 1994 soll diese Seite online gegangen und damit, wie sie selbst auf ihrer aktuellen Webpage verkündet, „the first newspaper in the United States to publish on the World Wide Web“ gewesen sein (https://www.paloaltoonline.com/about-us/). Indes könnte es sein, dass der Geburtstagskuchen mit den Kerzen an die Nando Times aus Raleigh (North Carolina, US) weitergereicht werden muss. Denn der Online-Ableger der Tageszeitung The News & Observer wurde bereits 1993 gegründet. Von Anfang an war dieser Dienst als 24/7-Angebot geplant, wurde aber anfangs erst über die BBS-Technologie gehostet und erst am 16. Februar 1994 ins WWW portiert. Noch früher als beide hat nur das College of Journalism and Communications an der University of Florida eine Nachrichtenseite ins WWW gestellt, allerdings waren die Inhalte nur dürftig und die Arbeit daran wurde nicht kontinuierlich fortgesetzt. Was nando.net von paloaltoonline unterschied, war, dass die Online-Redaktion aus Raleigh unter der Leitung von George Schlukbier sich von Anfang an als „full-featured“ mit originären Inhalten verstand, also neben lokalen und nationalen Nachrichten auch internationale News, Lifestyle, Wirtschaft, Sport und Gaming abdeckte, während die Kolleg:innen aus dem Silicon Valley einfach zweimal die Woche die Inhalte ihres Printprodukts online stellten, also „shovel-ware“ produzierten. Darüber hinaus etablierte die Nando Times bereits Arbeitsweisen, die sich später als typisch für onlinejournalistische Abläufe erweisen sollten, z.B. mit einem 24-Stunden-News-Service, online-optimierter Sprache, Experimenten mit multimedialen Darstellungsformen wie rotierenden Fotoalben etc.
Erste deutsche News-Webseiten
Vorreiter des Online-Journalismus in Deutschland ist, wie immer wieder kolportiert wird, das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Am 25. Oktober 1994 soll der Spiegel als erstes deutsches Medium eine Seite ins WWW gestellt haben. Schon vor dem Spiegel allerdings, um der historiographischen Präzision Genüge zu tun, war ein anderes journalistisches Medium aus Deutschland bereits online und ihm gebührt darum auch die hiesige Geburtstagstorte: Am 1. September 1994 ging die Deutsche Welle (DW), der Auslandsrundfunksender der Bundesrepublik Deutschland, der damals noch in Köln situiert war und sein Radioprogramm hauptsächlich über Kurzwelle ausstrahlte, ausweislich des eigenen Webarchivs unter der Adresse www.dwelle.de mit einer ersten Webpage online.
Seit Herbst 1994 kamen nach und nach viele Zeitungs- und Medienhäuser mit eigenen Internetauftritten: Die erste deutsche Tageszeitung, die im Frühjahr 1995 online geht, ist die Berliner taz, ursprünglich als studentisches Projekt mit wissenschaftlicher Begleitung und als reine shovel-ware: Eine eigene Onlineredaktion mit genuinen Inhalten leistet sich die taz erst seit 2007. Andere sehen die Schweriner Volkszeitung und ihr frühes Onlineangebot mit der Nase etwas vorne. International gesehen startet etwa in Großbritannien der Electronic Telegraph im November 1994, in Italien die kommunistische Tageszeitung L’Unità im Januar 1995. Die Süddeutsche Zeitung lanciert ihr Angebot SZonNet pünktlich zum 50. Geburtstag der gedruckten Tageszeitung im Oktober 1995, der erste genuine Onlineartikel erscheint dort im Herbst 1996. Vielleicht war es kein Zufall, dass in der Anfangsphase der journalistischen Online-Aktivitäten vor allem Blätter mit linkem und linksliberalem Anstrich Motor der Entwicklung waren. Ob ein Unternehmen der Zukunft zugewandt und für neue Tendenzen offen ist, ist womöglich auch eine gesellschaftspolitische Frage. Die bürgerlich-konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung ist mit ihrem Angebot faz.net jedenfalls erst im Jahr 2001 online gegangen.
Ende des Online-Journalismus
Schon in der Anfangszeit des WWW gab es, wie auch der Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt konstatiert, etablierte Fachkolleg:innen, die glaubten, „that the Internet hype would eventually disappear“, und deren Einschätzung der digitalen Welt damit ungefähr der von Homer Simpson entsprach, der lapidar bemerkte: „Das Internet? Gibt’s den Blödsinn immer noch?“
17,6 Millionen .de-Domains gibt es heute im Netz (Denic 2024). Man hätte dort Nachrichten und investigative Geschichten lesen können, man hätte dort Designerturnschuhe oder gehäkelte Topflappen bestellen können, man hätte sich dort über Parteiprogramme oder die abendlichen Kinovorstellungen informieren können, und das von überall aus und zu jeder Zeit. Hätte, hätte, Fahrradkette. Eigentlich eine hübsche Idee, dieses Internet. Denn niemand tut es. Das deutschsprachige Internet (und nicht nur dieses) ist ein Friedhof. Und das ist keine Polemik oder Hypothese, sondern das Ergebnis einer empirischen Erhebung des Kölner Medienwissenschaftlers Martin Andree (Andree und Thomsen 2020; Andree 2023; vgl. auch Haarkötter 2024)
Das Ergebnis ist nicht nur, aber insbesondere für journalistische Websites so drastisch wie fatal: Eines der meistgenutzten deutschsprachigen Internetangebote, die Nachrichtenseite spiegel.de, kommt nur auf eine durchschnittliche Nutzungszeit von 18 Minuten – pro Monat! Das ist nur etwas mehr als eine halbe Minute pro Tag. Genauso verheerend sieht es bei anderen qualitätsjournalistischen Angeboten im Netz aus. Auch tagesschau.de schafft nur 20 Minuten Nutzungszeit – monatlich. Ähnlich erbärmlich sehen auch die Nutzungszeiten etwa von sueddeutsche.de aus, hier kommt nur noch eine Nutzung von 9 Minuten im Monat (oder 17 Sekunden am Tag) heraus. Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V. hat Andrees Untersuchung 2024 in ihre Top Ten der Vergessenen Nachrichten aufgenommen (INA 2024) – dass die Medienkonzerne diese düsteren Zahlen nicht gerne selbst veröffentlichen, liegt auf der Hand. Zusammenfassend kann man konstatieren: Es wird vielleicht heute noch Online-Journalismus produziert, es liest ihn aber keiner mehr. Wo nur noch gesendet, aber nicht mehr empfangen wird, wo es nur noch Kommunikatoren, aber keine Rezipient:innen mehr gibt, da kommt nach der zweiwertigen Logik der üblichen Kommunikationsmodelle Kommunikation nicht zustande.
Über 90 Prozent des Traffics im deutschsprachigen Internet gehen heute allein auf das Konto der sogenannten GAFAM-Unternehmen, also der US-amerikanischen Internetplattformbetreiber, und deren medientechnologisches Incentive besteht darin, nicht qualitätsjournalistische Inhalte, sondern eine immer größere Menge immer wertloseren „Contents“ auszuspielen. Sie folgen damit jenem Mantra, das der US-amerikanische Rechtspopulist Steve Bannon formuliert hat: „Flood the zone with shit“ (Stelter 2021; vgl. Andree 2023, S. 271).
In kunstphilosophischen und mediensoziologischen Kreisen ist schon vor einer Weile das Konzept eines „postmedialen“ Zeitalters diskutiert worden (Selke und Dittler 2010). Wir können live dabei sein und den Abschied vom Gestern wie den Abschied vom Morgen gleichzeitig erleben. „Wenn wir also die analogen Medien ausknipsen, ist der Journalismus in der digitalen Welt aus unserer Mediennutzung weitgehend verschwunden“, schreibt dazu Martin Andree. Und auch Medienökonom Frank Lobigs hält fest: „[I]n der Summe ist es der Journalismus selbst, der in der Welt des Internets einer fundamentalen Verdrängung unterliegt, und dies ist mit Blick auf die publizistikwissenschaftlich fundierten gesellschaftlichen Funktionen des Journalismus durchaus beängstigend“.
Ohne Journalismus keine Demokratie
Mit dem Journalismus ist die Demokratie insgesamt in Gefahr. Und wo die Demokratie unter Druck gerät, dort geraten auch verfassungsmäßige Grundrechte wie die Wissenschaftsfreiheit ins Wanken. Die Kräfte, die dem (Online-)Journalismus zusetzen sind die nämlichen, die die Wissenschaft und damit auch jene Disziplin, die sich wissenschaftlich mit dem Journalismus auseinandersetzt, bedrohen. Die Warnzeichen sind bereits da, in anderen Ländern fraglos, aber auch in Deutschland ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die Wissenschaftsfreiheit zum Verhandlungsobjekt im politischen Diskurs werden könnte. Handlungsbedarf ist da, und zwar nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch. Die Alternative wäre, unter diese zu ausführlich gewordenen Zeilen eine jener Akronyme zu schreiben, die auf den Social-Media-Kanälen als Abkürzungen so beliebt sind, weil längliche Postings ohnehin keine Aufmerksamkeit mehr finden: RIP.
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Dieser Beitrag ist die Kurzfassung eines längeren Aufsatzes, der in der Zeitschrift Publizistik erschienen und via open access kostenlos abrufbar ist.
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