Wer die Wahl hat, hat die Qual. Nie war der Satz so wahr wie heute, nach den desaströsen Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern Thüringen und Sachsen. Die Wahl ist rum, die Qual ist da. Ausgerechnet in Thüringen erringt die AfD, die dort als gesichert rechtsextrem identifiziert wurde, den Wahlsieg und wird stärkste Partei. In Sachsen schrammt sie nur äußerst knapp am Sieg vorbei und wird hinter er CDU zweitstärkste Kraft im Landtag. Und dann ist da noch das „Bündnis Sahra Wagenknecht“, eine leninistische Kaderpartei, gegründet von einer erklärten Stalinistin, das mit putinfreundlichen und ausländerfeindlichen Parolen bei seinen ersten Landtagswahlen zweistellige Ergebnisse erzielen konnte. Ein Aufschrei in den Medien? Eine Mobilisierung der Öffentlichkeit? Mitnichten. Der Journalismus kehrt im Eiltempo zum Alltag zurück, business as usual. Das ist das zweite Desaster.
Ausgerechnet Thüringen: Hier errang die NSDAP im Jahr 1930 zum ersten Mal die Macht in einer deutschen Landesregierung. Ein Artikel von Volker Ullrich in den Blättern für deutsche und internationale Politik stellt den Zusammenhang her. Am Wahlabend ist in den Live-Sendungen von ARD und ZDF davon nichts zu hören. Die ARD verzichtet gleich ganz auf Einordnung und Analyse. Hier folgt man dem altbekannten „horse race“-Frame und kapriziert sich ganz auf die gar nicht mal so spannende Frage: Wer kann jetzt eigentlich mit wem koalieren? Der AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke, der in der letzten Wahlkampfwoche die Teilnahme an TV-Live-Diskussionen noch abgelehnt hatte und dessen Partei alle Medienvertreter:innen von seiner Wahlparty ausgeschlossen hat, wird von MDR-Moderator Gunnar Breske gleich zweimal ans Mikrophon gelassen, wo er ziemlich ungehindert und ohne kritische Gegenfragen seinen Sermon zum schlechtesten geben darf. Auch aus der Kritik an einer Umfrage zur ARD-Doku „Einigkeit und Recht und Vielfalt“ scheint der Sender nicht gelernt zu haben: WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn präsentiert Umfrageergebnisse, deren Fragen schon so insinuativ sind, dass die Antworten nicht mehr wunder nehmen können. Wenn man fragt: „Welcher Partei trauen Sie am ehesten zu, Kriminalität und Verbrechen zu bekämpfen?“, dann insinuiert man damit, dass Kriminalität und Verbrechen in unserer Gesellschaft ein besonders großes Problem sind, womöglich stark steigen. Allerdings ist das Gegenteil der Fall. Bedient wird hier ein Wahlkampfmythos der AfD, der ausschließlich dieser Partei nützt, und genau so sieht das Umfrageergebnis dann auch aus.
Im ZDF wird das gleiche „Wer koaliert mit wem“-Spiel gespielt. Aber immerhin hat Chefredakteurin Bettina Schausten im Wahlstudio Prof. Karl-Rudolf Korte zu Gast, Politikwissenschaftler von der Uni Essen-Duisburg, der für etwas Einordnung sorgen kann. Und in ihrem eigenen Kommentar in den Heute-Nachrichten findet Schausten so klare Worte, dass manchem wie dem „Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt die Luft wegbleibt: Da muss sie also etwas Richtiges gesagt haben.
Dass die Berichterstattung für diese katastrophale Landtagswahl einen Teil der Katastrophe ausmacht, konstatiert auch René Martens im „Altpapier“ (immerhin vom MDR gehostet) in seinem Vergleich der deutschen mit der britischen Berichterstattung: „Die hiesigen setzten dagegen auf Ampel-Bashing und Personalfragen-Kinkerlitzchen“. Das Abschneiden des BSW lässt sich ohnehin nur mit der jahrelangen Dauerpräsenz der Parteigründerin Sahra Wagenknecht in öffentlich-rechtlichen Talkshows erklären. Der „Spiegel“ fand an der Berichterstattung der ARD angeblich nichts auszusetzen: „Am Wahlabend fand der MDR einen souveränen Umgang mit der AfD“, befand das Hamburger Nachrichtenmagazin. Doch wenn man in den Bericht hineinliest, klingt es schon wieder etwas anders:
„Dann aber hatte Höcke Gelegenheit, sich als Wahlgewinner zu inszenieren, der nach »guter parlamentarischer Tradition« Sondierungsgespräche für mögliche Koalitionen führen wolle. (…) Der MDR bot Höcke bei allen kritischen Anmerkungen also viel Platz zur Selbstdarstellung“.
(Der Spiegel)
Man muss zur Ehrenrettung der Öffentlich-Rechtlichen erwähnen, dass sie zur Binnenpluralität verpflichtet sind, das heißt, sie müssen alle Parteien des politischen Spektrums zu Wort kommen lassen, gerade an Wahlabenden. In der ZDF-Sendung „Berliner Runde“ mit einer offensichtlich überforderten Hauptstadtstudioleiterin Diana Zimmermann als Moderatorin standen direkt 8 (!) Parteienvertreter:innen im Studio-Halbrund, so dass jeder einzelne kaum mehr als ein oder zwei Kurzstatements abgeben konnte. Ein sinnvoller Diskurs kann so nicht zustande kommen. Und bei aller Binnenpluralität gehört auch die Förderung der Demokratie zu den gesetzlichen Aufgaben der öffentlich-rechtlichen Sender, und da ist der Umgang mit AfD und BSW schon zu hinterfragen.
Dabei gibt es sie, die klugen Analysen zur Situation in Ostdeutschland: Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk gibt immer wieder über seinen Facebook-Account und neuerdings in seinem Buch „Der Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands seit 1989“ kluge Interpretationen zum besten. Kowalczuk hebt dabei nicht so sehr auf die Fehler ab, die die „etablierten“ Parteien (wer immer das sein soll) gemacht haben, als vielmehr auf die Wähler:innen in Ostdeutschland. Und die sieht er in düsterem Licht:
„Erstens lehnen immer mehr Menschen das westliche liberale Staatssystem ab. Da macht man sich dessen Feinde zum Freund. Zweitens steht Putin für ein autoritäres Staatssystem, das auch AfD und BSW anstreben. Im Osten gab es immer eine große Neigung zu autoritären Staatsvorstellungen. Das schwankt zwar je nach Jahr und Umfrage, aber man kann davon ausgehen, dass das auf zwei Drittel der Menschen im Osten zutrifft“.
(Ilko-Sascha Kowalczuk auf n-tv)
Der Soziologe Steffen Mau trägt in seinem Buch „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“ sehr zum Verständnis bei, im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (Paywall) gibt er eine gute Zusammenfassung seiner Thesen. Ein Zitat:
„Politik wird im Osten einfach nicht so stark an allgemeine Prinzipien gebunden gesehen wie im Westen. Die Idee, dass es fundamentale und geschützte Spielregeln des Zusammenlebens gibt, die auch die jeweiligen gewählten Regierungen berücksichtigen müssen, dass sie nicht vollkommen freie Hand haben – das spielt bei Weitem nicht so eine zentrale Rolle.“
(Steffen Mau in der SZ)
Solche Stimmen sind aber leider in der Fernsehberichterstattung nicht zu hören. Stattdessen medial etabliertes Parteiengezänk, das niemand mehr hören kann und will. Dass die Vertreter von CDU/CSU vor allem ein Votum gegen die Berliner Ampel-Regierung sehen, ist einerseits als parteipolitisches Manöver arg durchschaubar, andererseits in seiner analytischen Naivität zum Haare-Raufen. Und mit dem bigotten Ruf nach Neuwahlen schließen sich die Christdemokraten dann auch direkt einer AfD-Forderung an, ohne eine Sekunde über die Folgen nachzudenken.
Seit den 1990er-Jahren hat die Bundespolitik (und zwar alle Parteien) die sich radikalisierende rechtsextremistische Stimmung in Ostdeutschland massiv unterschätzt und verharmlost. Dass Neonazis dort „national befreite Zonen“ ausrufen durften, stieß auf keinerlei politische Gegenwehr. Dreißig Jahre später gibt es die Quittung in Form von Wahlergebnissen, die deutsche Faschisten ganz nah an eine Regierungsbeteiligung bringen. Das sollte journalistisch aufbereitet werden. Doch zum Verständnis der historischen Umstände tragen die Sender am Wahlabend nicht bei.
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