Fake News sind spätestens seit der Kampagne zur US-Präsidentschafts- wahl 2016 ein politischer Kampfbegriff, der auch in der Medien- und Kommunikationswissenschaft eine große Resonanz gefunden hat. Die gesellschaftspolitischen, journalismuskritischen, sozialpsychologischen und auch empirisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen in Buchform sind mittlerweile Legion. Statt des toxischen und widersprüchlichen Begriffs ‚Fake News‘ hat es sich etabliert, eher von (aktueller) Desinformation (und im Engl. von misinformation) zu sprechen. Auch diese Umetikettierung hat indes die methodischen Schwierigkeiten in der Untersuchung des Phänomens nicht mildern können, zu disparat scheint das Forschungsfeld, zu uneinheit- lich die einzelnen Vorkommnisse, zu missbrauchsanfällig der implizite Vorwurf, der eine Identifizierung als ‚Fake News‘ selbst zur Desinformation machen kann.
Neuere Arbeiten zum Thema müssen mit diesen Disambiguitäten umgehen und die methodischen Schwierigkeiten nicht nur reflektieren, sondern im Idealfall auch ausräumen. Ich habe drei umfängliche Bücher zum großen Feld der media misinformation genauer angesehen und in der Zeitschrift MEDIENwissenschaft:Rezensionen besprochen, die dies dies auf unterschiedliche Weise tun.
Der von Richard Rogers herausge-gebene Band The Propagation of Misinformation in Social Media basiert auf den Untersuchungen eines internationalen Konsortiums von Forschenden aus den Niederlanden, Belgien, Kanada, Italien, Großbritannien und den USA. Unterstützt wurden die Forscher:innen dabei von der Organisation First Draft, einem journalistischen Trainingsnetzwerk mit Arbeitsschwerpunkt Desinformation, sowie der Forschungsplattform SoBigData++, die speziell dazu dient, große Datenmengen aus sozialen Netzwerken für die Analyse zur Verfügung zu stellen. Ausgangspunkt der raumgreifenden empirischen Untersuchungen der Autor:innen des Sammelbands ist die Feststellung, dass einerseits Plattformbetreiber wie Facebook mittlerweile durchaus Erfolge dabei erzielt haben, die Verbreitung extremer und extremistischer Sichtweisen einzudämmen. Andererseits sind die Plattformen aber gerade im Umfeld von politischen Wahlen oder bei Reizthemen wie den Impfungen während der Corona-Pandemie doch wieder an dieser Aufgabe gescheitert.
Handbuch Media Misinformation
Das von Karen Fowler-Watt und Julian McDougall herausgegebene The Palgrave Handbook of Media Misinformation weitet das Untersuchungsgebiet noch einmal deutlich aus, und das schon durch den schieren Umfang, enthält der knapp 400 Seiten starke Band doch respektable 25 Beiträge von sehr unterschiedlichen Autor:innen. Neben Vertreter:innen der Wissenschaft äußern sich im Handbook auch Vertreter:innen des Bildungssektors, Journalist:innen und Aktivist:innen, die auf die eine oder andere Weise mit Desinformation zu tun, darunter zu leiden oder dagegen zu kämpfen haben. Auch wenn das Buch im Titel die media misinformation führt, bevorzugen die Herausgeber:innen, wie sie in ihrer ausführlichen Einleitung darlegen (S.XXVII-XLIV), als heuristischen Begriff den Ausdruck „information disorder“ (S.XXVII). Der Terminus sei komplex und bilde eine Summe aus vielen beweglichen Teilen – „including confusion, cynicism, fragmentation of public discourse, irresponsibility of powerful actors and a pervasive apathy in the face of the situation“ (S.XXXVI). Zu den auch wissenschaftlichen Heraus- forderungen zählen nicht nur die vergangenen Desinformationswellen, die mit US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen oder der Brexit-Kampagne in Großbritannien verknüpft sind, sondern auch jene zeitgeschichtlichen Ereignisse, die sich während des Entstehens des Sammelbands abspielten, nämlich die COVID-19-Pandemie mit der von der Weltgesundheitsorganisation ausgerufenen ‚Infodemie‘ und Vladimir Putins Krieg in der Ukraine, in dessen Verlauf Desinformation als Waffe diente, die direkt in militärische Taktik in der physischen wie der virtuellen Welt wurde. Putins Geschichtsklitterung hätte acht Jahre lang das Terrain vorbereitet, bevor die Panzer rollten (vgl. S.XXIX). Der Terminus ‚Fake News‘ wird von den Herausgeber:innen des Handbuchs auch deswegen nur tentativ gebraucht, weil er eigentlich ein Oxymoron sei. Denn falsche Information könne nicht als „news“ charakterisiert werden und entsprechend sei die Unterscheidung wahr – falsch im Grunde eine „false binary“ (S.XXX). Entsprechend sei der Journalismus auch nicht die Antwort auf Fake News, sondern manchmal Teil des Problems, und zum bürgerschaftlichen Engagement und zur media literacy gehöre es auch, eine gesunde Portion Skepsis gegenüber medialen Hervorbringungen aller Art, also auch journalistischen, zu entwickeln. Statt nach Wahrheit sei darum nach Vertrauen in journalistische Arbeit zu fragen, die auch den Boden für das Vertrauen ins demokratische System bereite.
Auch die Wissenschaft, bemerken die Herausgeber:innen selbstkritisch, sei nicht immer die Antwort auf Fake News – vor allem da nicht, wo sie sich auf postmodernistische oder konstruktivistische Positionen beziehe oder zurückziehe –, weil sie damit der Hypothese ‚alternativer Fakten‘ Vorschub leiste (vgl. S.XXXIII). Eine mögliche Lösung des Problems sei dagegen ein langfristiges Medienbildungsprogramm, das weniger wie ein antivirales Heilmittel als vielmehr wie eine Impfung gegen die Fake- News-Krankheit helfe („more like a vaccine than an antiviral medicine“ [S.XXXV]).
Creating Chaos Online
Asta Zelenkauskaites Buch Creating Chaos Online: Disinformation and Subverted Post-Publics ist in dieser hier vorgestellten Reihe von Büchern in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes: Zum einen hat sie eine Monografie zum Thema von fast 300 Seiten vorgelegt. Zum anderen berichtet sie, insbesondere wo sie von Desinformation in prädigitaler Zeit in der Sowjetunion schreibt, aus eigener Anschauung, ist sie doch, wie sie selbst erzählt (vgl. S.12), noch zu Zeiten des Sowjetregimes in Litauen geboren und aufgewachsen. Diese Erfahrung ist auch Ausgangspunkt ihrer Überlegungen, in denen sie sowjetische Propaganda als Blaupause nutzt, um Ähnlichkeiten, aber auch Veränderungen gegenüber dem ‚trolling‘ und den Desinformationskampagnen russischer Provenienz herauszuarbeiten, wie sie sich heute in auch und vor allem in den Kommentarspalten von Webseiten und Social-Media-Diensten zeigen. Insbesondere interessieren die Autorin jene Strategien, die sie als „denialism“ (S.1) bezeichnet und womit sie alle rhetorischen Manöver meint, bei denen Desinformationskampagnen verharmlost oder geleugnet werden. Funktion dieser Manöver ist laut der Verfasserin die Unterminierung des Vertrauens ins Mediensystem, in dem das für das Buch titelgebende Chaos online produziert wird. Zelenkauskaite unterscheidet disinformation von misinformation, weil es ihrer Meinung nach nicht so sehr um wahre versus falsche Aussagen geht:
„In this book the concept of disinformation goes beyond the false facts and rational arguments. Rather, disinformation is conceptualized as the deployment of propaganda that involves affective, deflective, and misleading, rather than false information, and propaganda is conceptualized as the intentional use of communication means to influence attitudes and behaviors in target populations“ (S.3).
(Asta Zelenkauskaite)
„Neutrollization“ (S.5) nennt die Autorin in einem etwas schrägen Wortspiel die Bemühungen von „pro- Kremlin“-Akteuren (ebd.), russische Desinformationskampagnen derart zu neutralisieren, dass sie im Westen nicht als gesellschaftliche Bedrohung angesehen werden. In ihrer Untersuchung geht die Autorin empirisch vor, indem sie eine Cross-Plattform-Analyse der Kommentarspalten von drei US-News-Portalen unternimmt – nämlich der liberalen New York Times, dem extremen Breitbart-Blog und dem noch weiter rechts außen stehenden Netzwerk Gab.com. Die Ergebnisse dieser Analyse gleicht die Autorin mit der Auswertung von Kommentaren auf der litauischen Newsseite Delfi.lt ab.
Die gesamte Rezension kann online gelesen werden unter dem folgenden Link:
Hektor Haarkötter: Digital Desinformation. Bereichsrezension. 2024.
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