Schiffbruch mit Zuschauer: „Titan“ und der Journalismus

Schiffbruch wird im Journalismus offensichtlich sehr unterschiedlich behandelt. Das zeigt das Unglück des Unterseeboots „Titan“, das es der „Titanic“ nachtun will, zu der er es unterwegs war. Wir kennen die Namen der Abenteuer-Touristen in diesem U-Boot, wir wissen, womit sie ihr Geld verdienen, und wir wissen auch, dass es viel Geld sein muss — immerhin soll eine Fahrt mit der „Titan“ eine Viertel Million Dollar kosten. 

Der Unterschied zur Berichterstattung über die schiffbrüchigen Flüchtlinge vor der griechischen Küste im Mittelmeer ist offensichtlich. Hunderte Menschen sind allein bei dem tragischen Ereignis in der vergangenen Woche gestorben. Tausende sterben jedes Jahr im Mittelmeer auf ihrem Weg von Nordafrika zum vermeintlich goldenen Kontinent Europa. Doch diese Schiffbrüchigen haben keine Namen, wir erfahren nicht, wo sie herkommen, was sie beruflich machen. Das persönliche Interesse, das der Journalismus ihnen entgegenbringt, ist äußerst gering. 

„Schiffbruch mit Zuschauer“, auf diese Metapher hat der Philosoph Hans Blumenberg einst die Situation gebracht, in der die Mediennutzer:innen sich heute zurückgeworfen finden. Blumenberg wollte damit eine anthropologische Konstante beschreiben: Das Unglück ist medial besonders interessant, wenn es anderen geschieht. Wir müssen allerdings heute konstatieren, dass das Interesse an Schiffbrüchen beim Publikum (und auch bei den Medien) sehr ungleich verteilt ist. „Gerettet wird nur, wer im richtigen Boot sitzt“, hat Katharina Menne das auf spektrum.de ganz richtig kommentiert. Aber es gilt auch für die Berichterstattung: Berichtet wird nur über die, die im richtigen Boot sitzen.

Nach internationalem Seerecht (Genfer Abkommen II von 1949) muss allen Schiffbrüchigen geholfen werden und sind alle Schiffe dazu verpflichtet, ihre Fahrt zu unterbrechen, um Schiffbrüchige aufzunehmen. Deswegen ist es völlig richtig und rechtens, dass den Insassen des U-Boots „Titan“ im Atlantik geholfen werden soll und alles zu ihrer Rettung getan werden muss. Doch gilt dies selbstverständlich auch für jeden Menschen, der im Mittelmeer verunglückt, und zwar völlig ungeachtet der Gründe und Motive für die Seereise. Doch wird genau hier ständig und dauerhaft das internationale Recht gebrochen. „Schiffbruch des Internationalen Rechts“ nennt das Henriette Reitag im Forum Recht. Vielleicht ist es auch ein Schiffbruch des Journalismus.

Im Deutschlandfunk Kultur habe ich der Sendung „Studio 9“ ein Interview zu diesem Thema gegeben. Man findet es unter der folgenden Link:
DLF Kultur: „Titan“ als großes Medienereignis

Über Medienhektor 99 Artikel
Hektor Haarkötter, Prof. Dr., lehrt Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt polit. Kommunikation an der Hochschule Bonn Rhein-Sieg.

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