Manifest für „Journalismus der Dinge“

Auf der Online-Leistungsschau „re:publica“, die letzte Woche in Berlin stattgefunden hat, haben Journalist/innen ein ein Manifest für einen „Journalismus der Dinge“ vorgestellt. Der grundlegende Gedanke dahinter ist, dass es mit dem „Internet der Dinge“ eine sprunghaft zunehmende Zahl vernetzter Geräte und Gegenstände gibt, die allgegenwärtig werden. Drohnen, Sprachassistenten, Kameras, Sensoren und Fitnesstracker umgeben heute den Alltag der Menschen. Das verändert, so die Journalistengruppe, auch den Blick auf die Welt und die Gesellschaft. Es brauche darum einen neuen Journalismus, der dieser Entwicklung Rechnung trage. Das Manifest, das im folgenden dokumentiert wird, kann auch auf Github heruntergeladen werden:

  1. Dinge vermitteln die Welt. Jeden Tag erheben Sensoren Massen von Daten. Wer alternative Sichtweisen der Welt und damit andere Entscheidungen zur Debatte stellen will, muss sowohl die erhobenen Daten reproduzieren als auch andere Messweisen durchführen können. Dinge sind eine neue Hardware des Journalismus.
  2. Dinge übernehmen Verantwortung. Maschinen treffen zunehmend automatisch Entscheidungen. Die Entscheidungen basieren auf Daten, die häufig ebenfalls automatisch von Maschinen erhoben wurden. Um diese Entscheidungen einordnen und hinterfragen zu können, muss Journalismus solche immer komplexeren Prozesse verstehen lernen. Sonst verliert der Journalismus seine Möglichkeit, Verantwortung den richtigen zuzuweisen.
  3. Dinge müssen zur Rechenschaft gezogen werden können. Wie sie Aussagen über die Welt erheben, muss nachvollziehbar sein. Wer eine quantifizierte Aussage über die Welt treffen kann, erreicht oft Deutungshoheit über ein Thema. Wenn offizielle Stellen beispielsweise als einzige die Wasserqualität messen, haben sie auch die Deutungshoheit, ob das Wasser sauber ist. Journalismus muss diese Methoden und Auswertungen nachvollziehen können, um Politik und Wirtschaft zu kontrollieren. Je abhängiger Journalisten von den Erhebungen zentralisierter Stellen sind, desto weniger unabhängig ist ihre Berichterstattung.
  4. Dinge können Reporter sein. Sensoren können langfristig vor Ort sein, Ereignisse aus einer anderen Sicht beobachten und neue Informationen beschaffen. Sie können aber auch an Orte gehen, wo Menschen nicht hinkommen, seien es verstrahlte Gebiete, Abflussrohre oder das Verdauungssystem. Wie gute menschliche Reporter können vernetzte Geräte somit eine andere Betrachtungsweise der Welt ermöglichen. Das bedeutet nicht, dass es dafür keine Menschen braucht. Dinge helfen als Reporter dort, wo Menschen keinen Zugang haben.
  5. Dinge manifestieren Haltungen. Was ein Sensor misst, wie eine Kamera aufnimmt, was ein Server speichert ist nie wertfrei. Die Analyse solcher eingebauten Prioritäten gleicht der Frage nach der Motivation eines Handelnden. Sie muss deshalb Kern journalistischer Arbeit werden.
  6. Journalismus-Dinge müssen nicht digital sein. Wenngleich oft digitale Geräte die einfachste Möglichkeit sind, Daten zu erheben, sind genauso chemische, biologische oder physikalische Erhebungen bisher im Journalismus als Methoden kaum ausgebildet. Das muss sich ändern.
  7. Dinge sind Interfaces. Dinge können Quelle und Ausspielkanal gleichzeitig sein. Gerade Journalismus auf Smartphones ermöglicht gleichzeitig die Erhebung und Vermittlung von Informationen. Diese Rückkopplung ermöglicht neue Mechanismen und Austausch zwischen Journalisten und Publikum, die gerade erst begonnen haben.
  8. Dinge können ein Mittel im Kampf gegen Desinformation sein. Weil Informationen durch Sensoren und andere Erhebungsinstrumente oft quantitatifizierbarer und überprüfbarer sind, können sie Aussagen belastbarer und zuverlässiger machen. Fundamental ist dafür ein technisches Grundverständnis innerhalb von Redaktionen.
  9. Dinge beeinflussen, was sagbar ist. Welche Geschichte erzählbar ist, welche Daten verständlich und welche Sicht der Welt sagbar, hängt untrennbar mit den sich rasant wandelnden Ausspielkanälen der Medien zusammen. Der Journalismus der Dinge kann nicht nur neue Fragen fragen. Er muss auch darüber nachdenken, wie digitale Geräte neue Geschichten erzählen können. Er ist damit keine Alternative oder Konkurrenz zu Text-, Video- oder Datenjournalismus. Journalismus der Dinge funktioniert nur als gleichberechtigte Partnerschaft mit anderen Formen des Journalismus.
  10. Dinge machen Journalismus greifbar. Der Journalismus findet auch mit Dingen in den Händen der Leser statt. Wenn die vernetzte Barbie mit Kindern Weltpolitik diskutiert, wenn der Radfahrer seine Daten mit der Redaktion teilt, werden Leser Teil der Recherche. Der Journalismus der Dinge braucht eigene Formate, die Geschichten live denken und Bürger einbeziehen, um Vertrauen zwischen dem Journalist und seiner Leserschaft herzustellen.
Über Medienhektor 99 Artikel
Hektor Haarkötter, Prof. Dr., lehrt Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt polit. Kommunikation an der Hochschule Bonn Rhein-Sieg.

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