Stern-Stunden des Online-Journalismus: Polygame Welt

Welt-"Redakteur" Marcel, o. Altersangabe (Symbolfoto, Quelle: privat)

„Die Welt“ will ja eigentlich eine konservative Tageszeitung sein. Aber in Sachen Beziehungsleben pflegt man, hoho, doch ziemlich moderne Anschauungen. Da darf ein „Christian, 37“ die Vorzüge des Fremdgehens besingen. Oder handelt es sich doch nur um Werbung für ein Partnerschaftsportal?

Wenn es gut läuft in der Welt der Zeitungen und der journalistischen Onlineseiten, dann wird aus schnöden Sachtexten geläufige Prosa. Manchmal läuft es aber auch anders rum und der Leser hätte sich einen schlichten journalistischen Sachtext gewünscht, geliefert bekommt er aber eine schmierige und anbiedernde Form der Prosa, die jede Peinlichkeitsgrenze unterläuft. Auf der Website Welt.de aus dem Hause Springer wird uns eine Story aufgetischt, die vielleicht Klicks erzeugt, womöglich Werbung ist, aber mit Journalismus nicht das Geringste zu tun hat: „Christian, 37, geht fremd: Hier erzählt er von seiner Affäre“:

Mit Julia fehlt mir die Versautheit. Sie will eher Kuschelsex, während ich auf härtere Sachen stehe. Damit wir Sex haben, muss ich den ersten Schritt machen. Sie sendet Signale, die ich richtig deuten muss. Aber die Jogginghose und der Schlabberlook sind zu Hause zu oft an, um die Signale erkennen zu können. Wir haben schon seit mehreren Wochen keinen Sex mehr. Wir haben im Moment aneinander nicht so viel Lust.“

Also, ich muss gestehen, „Die Welt“ und ich haben im Moment auch aneinander nicht so viel Lust. Jedenfalls ist dieser Text von Welt-Redakteur Marcel Reich nicht lustig. Handelt es sich überhaupt um einen redaktionellen Beitrag? Daran kann zweifeln, wer weiterliest:

Sandra ist nicht einfach passiert. Christian hat aktiv gesucht. Acht Monate lang hat er gemerkt, dass er so nicht weitermachen will. Christian meldet sich auf der Onlineplattform Joy… an. Wer sich hier ein Profil erstellt, kommt in eine Gemeinschaft, in der alle Sex suchen.

Der Name der Sexvermittlungsplattform wird in dem Welt-Artikel natürlich mit vollem Namen erwähnt. Und das auch mehr als einmal. Selbst wenn für diese Veröffentlichung kein Geld an den Springerverlag geflossen sein sollte (was dann als große Dummheit des Verlags angesehen werden müsste), handelt es sich um einen werblichen Beitrag, der entsprechend gekennzeichnet werden müsste, denn es werden keine anderen Vermittlungsplattformen in dem Text genannt oder überhaupt nur auf deren Existenz hingewiesen. Und die Schmierenprosa, die „Redakteur“ Marcel Reich hier zusammengestoppelt hat, liest sich exakt wie ein Werbe-Elaborat eines solchen Internet-Sex-Bezahldienstes mit deutlichem Aufforderungscharakter: Willst Du schnackseln, dann komm‘ auf meine Seite. Hier findest Du, Mann, 37, sogar jene Frauen, die die etwas härtere Gangart oder zwischendurch mal einen Flotten Dreier lieben:

Sandra mag es, gefesselt zu werden. Dominiert. Am Hals gepackt zu werden. Wir haben uns auch schon mit einem zweiten Mann getroffen. Da ging es dann auch darum, die Frau zu dominieren.“

Symbolfoto als echtes ausgegeben

Garniert wird das Welt-Elaborat mit einem Symbolbild, auf dem ein Mann mit knittrigem Anzug auf einem zerwühlten Hotelbett sitzt. In der Bildunterschrift steht „Christian, 37“ und „Quelle: privat“, als handle es sich um ein echtes Foto des angeblich echten Fremdgehers, obwohl es sich doch bei dem Artikel offensichtlich um die Pennälerfantasie aus der Werbeabteilung des Onlinesexservice handelt und dieses Foto doch vermutlich eher ein Stockfoto ist. Wer sollte denn dieses Inflagranti-Foto geschossen haben? Die übers Internet kontaktierte Geliebte, nachdem sie gerade gefesselt und hart rangenommen worden ist?  Und „Christian, 37“ sollte dieses Foto extra digital gespeichert haben, um es später dem Welt-„Redakteur“ Marcel (ohne Altersangabe) zu übereignen, obwohl er doch sonst, laut Marcel (ohne Altersangabe), sogar jede WhatsApp-Nachricht löscht, damit seine angeblich eifersüchtige Ehefrau ihm nicht auf die Schliche seiner ach so geheimen Liebschaft komme, von der ja nur (mit Foto!) in einer bundesweit erscheinenden Zeitung bzw. auf deren weltweit erreichbarer Webseite zu lesen ist?

Dass es sich hier um ein Märchen und nicht um einen journalistischen Text handelt, merkt man auch an sprachlichen Merkmalen: Der Text ist nämlich an vielen Stellen im Präteritum, also in der Erzählzeit, geschrieben, während journalistische Artikel in der Regel präsentisch geschrieben werden. 

Gedruckte Zeitungen machen gerade eine schwere Zeit durch. Für die „Welt“ waren die Zeiten noch nie so ganz einfach. Auch der Online-Journalismus läuft sicherlich nicht so, wie er laufen müsste, um die Information der Gesellschaft solide auf neue, digitale Beine zu stellen. Aber mit Märchen aus der Werbeabteilung von Sexservices wird es nicht besser werden. Versucht’s doch mal mit Journalismus!

Über Medienhektor 99 Artikel
Hektor Haarkötter, Prof. Dr., lehrt Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt polit. Kommunikation an der Hochschule Bonn Rhein-Sieg.

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