Der Stern hat ein Problem mit der Wahrheit. Selbst wenn er weiß, dass er Lügen verbreitet, nimmt er sie nicht vom Netz. Dabei sollte gerade der Stern es doch besser wissen.
Das ist ja ein dolles Ding: Eine hübsche, spärlich bekleidete junge Frau ist im wahren Leben so etwas Sprödes wie Mathelehrerin?! Auf geht’s, denkt sich da der Online-Redakteur beim Stern, da machen wir eine total heiße Geschichte draus. Gesagt, getan:
„Minsk in Weißrussland gilt nicht als spannendste Metropole Europas. Dafür gibt es dort den aufregendsten Mathe-Unterricht. Immer dann, wenn Oksana Neveselaya an die Tafel tritt“.
Von der angeblichen Mathelehrerin soll angeblich ein angebliches Video aufgetaucht sein. Natürlich überprüft der Stern so etwas nicht, das könnte schließlich die schöne Geschichte kaputt machen. Und generell wird es mit der Recherche im Journalismus ja auch deutlich übertrieben:
„Sie gilt als die heißeste Mathematik-Leherin [sic!] der Welt. Von Oksana ist ein kleiner Video-Clip bei Youtube aufgetaucht. Offenbar heimlich von einem Schüler aufgenommen. Mit einem grauen, kurzen und sehr figurbetonten Kleid führt Oksana Neveselaya in die Probleme der Mathematik ein. Selbst in dem kleinen Wackelvideo verschlägt sie dem Betrachter den Atem“.
So weit, so dümmlich. Aber das reicht natürlich noch nicht, weil die penetrante SEO-Abteilung im Hause Gruner&Jahr, zu dem der Stern gehört, darauf besteht, dass Artikel mindestens 300 Wörter haben müssen, um bei Suchmaschinen möglichst weit nach oben zu kommen. Also müssen noch ein paar idiotische Wortspielchen her! Warte mal: Mathe, Kurvendiskussion, weibliche Kurven? Ja, das ist es (ein kleiner Sabbertropfen trieft dem Redakteur auf die Tastatur):
„Ob dieser Aufzug pädagogisch sinnvoll ist, darf bezweifelt werden. Schwer vorstellbar, dass junge Weißrussen in der Pubertät sich bei Oksanas-Vortrag auf die Feinheiten der Kurvendiskussion konzentrieren können“.
Stern: Ist der Ruf erst ruiniert …
Das reicht immer noch nicht, um den Ruf (des Stern, nicht der jungen Frau!) nachhaltig zu ruinieren? In Mathe war man doch selbst immer so schlecht, sonst wäre man schließlich nicht Journalist geworden. Richtig bloßgestellt hat man sich manchmal im Matheunterricht gefühlt. Bloß gestellt? Bloß? Nackt und bloß? Wow, da kann man auch noch was draus stricken, was total viele Klicks bei 15-jährigen Jungs bringt (hoffentlich wischt die Putzkraft nach der Schicht mal über die Tastatur):
„Niemand muss Angst haben, dass sich die Lehrkraft von dem Video bloßgestellt fühlen könnte. Denn auf ihrem Instagram-Account O-Neveselaya zeigt Oksana ganz offen ihre schönen und sexy Seiten“.
Instagram-Journalismus ist an sich ja schon das döfste, was der Journalismus.online hervorgebracht hat: Ein Journalist surft über dieses Foto-Netzwerk, guckt sich ein paar Bilder von Promis oder Nicht-Promis an (besonders hoch im Kurs: Der Wendler, die Freundin vom Wendler, Lena Meyer-Landrut, Sophia Thomalla, Lena Gercke und neuerdings: Mathelehrerinnen) und schreibt, was er dort gesehen hat. Und dass es auch schon 500 andere User gesehen haben. So einfach ist Journalismus im digitalen Zeitalter geworden.
Das ist an sich schon blöde, aber noch blöder wird es, wenn die ganze Geschichte vorne nicht stimmt, und hinten auch nicht: Also schreibt die Redaktion eine Anmerkung über den Artikel mit der angeblichen Mathelehrerin, die angeblich aus Weißrussland ist.
„Anmerkung der Redakion: Es handelt sich um einen Hoax -. die [sic!] gefilmte Person ist nicht Neveselaya“.
Wie bitte? Wer ist es dann? Und wer ist „Neveselaya“? Wer hat die Geschichte erfunden und im Netz verbreitet? Und aus welchem Grund? Alles journalistische Fragen, die man hätte stellen können. Hat man beim Stern aber nicht – denn vom Journalismus hat man sich auf dessen Onlineseiten längst verabschiedet. Es fragt sich dann natürlich, warum lässt man den Artikel auf der Seite stehen, wenn es sich offensichtlich um Fake-News handelt? Und wenn der gesamte Artikel, der ohnehin schon sinnlos ist, dadurch noch sinnloser wird? Die Antwort scheint mir einfach: Weil so eine schmissige Überschrift garniert mit Videos und Bildern einer sexy jungen Frau trotzdem Klicks bringt, für die die Werbekunden des Stern (bei meinem aktuellen Aufruf z.B. Fa. Walbusch, die Provinzialversicherung und der Wertpapierhändler DWS) bezahlen.
„Weißrussland hat generell ein PR-Problem“, heißt der erste Satz des Artikels. Der Stern hat generell ein Journalismusproblem, und er sollte es schleunigst lösen.
Oh, ich wusste gar nicht, dass man den Stern noch ernstnehmen sollte.