Sternstunden des Online-Journalismus: „Express“ macht sich rar

„Bares für Rares“ ist eine beliebte Fernsehsendung. Von der Popularität will auch der Kölner „Express“ profitieren. Aber warum einen Artikel selber schreiben? Man kann doch auch einfach abschreiben.

Einer der Gäste in der TV-Sendung, in der normale Leute ihren Trödel verkaufen können, hat einen kleinen Blick hinter die Kulissen gewährt. Christian J. aus Bad Kreuznach will ein Silberservice verhökern. Was im Fernsehen aussieht, wie ein spontanes Verkaufsgeschehen, ist — so schildert es der „Express“ — ein monatelanger Prozess. Aber schildert es wirklich der „Express“? Nein, er hat die komplette Geschichte von der in Mainz erscheinenden „Allgemeinen Zeitung“ abgeschrieben. Hier ein paar Kostproben.

„Allgemeine Zeitung“:

„Es vergeht beinahe ein halbes Jahr, bis Jüttner nach Pulheim eingeladen wird. Das ZDF spendiert ihm eine Nacht im Hotel im Industriegebiet, das Frühstück für 8 Euro muss er selbst bezahlen. Morgens um 8 Uhr starten die Aufnahmen.“

Der „Express“ macht daraus:

 „Doch es verging anschließend beinahe ein halbes Jahr, bis Jüttner von Hallgarten nach Pulheim ins Walzwerk eingeladen wurde. Es gab eine kostenlose Nacht in einem Hotel im Industriegebiet, morgens um 8 Uhr ging es dann los.“

Das pikante Detail, dass der TV-Gast sein Frühstück auch noch selbst bezahlen muss, lässt der „Express“ auch noch fort — man will in Köln den Leser offenbar nicht mit zu viel Information überfordern. Doch sehen wir mal weiter!

„Allgemeine Zeitung“:

„Vier Stunden läuft Jüttner nun von Drehort zu Drehort, der Clip im Fernsehen dauert letztlich keine zehn Minuten. Als Christian Jüttner zur Expertise muss, trifft er auf Albert Maier. ‚Der war gut aufgelegt‘. Kurz darauf springt aus der hintersten Ecke Horst Lichter ins Scheinwerferlicht.“

Im „Express“ heißt es:

„Vier Stunden musste Jüttner von Drehort zu Drehort tingeln, der Clip im TV dauert keine zehn Minuten. Bei der Expertise redete Jüttner dann zunächst mit Albert Maier, später kam Horst Lichter ins Scheinwerferlicht.“

Und so weiter, und so fort. Die einzige journalistische Leistung, die der „Express“ an der Geschichte erbringt, ist das Kürzen. Außerdem wird das Tempus konsequent vom Präsens ins Präteritum versetzt. Das ist im übrigen auch völlig korrekt: Die „Express“-Geschichte, die auf der Website unter dem 6.12.2018 veröffentlicht wurde, ist in der „Allgemeinen Zeitung“ bereits zwei Monate zuvor erschienen. Irgendwie will nur das Wörtchen „Express“ dazu nicht recht passen.

Hier die Links zu den beiden Artikeln:

„Express“: Blick hinter die Kulissen

„Allgemeine Zeitung“: Bares für Rares — Christian Jüttner blickt hinter die Kulissen 

Über Medienhektor 99 Artikel
Hektor Haarkötter, Prof. Dr., lehrt Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt polit. Kommunikation an der Hochschule Bonn Rhein-Sieg.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.